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"Natural" ist keine Geschmacksstilistik

von Dorli Muhr
Simon J Woolf
Simon J Woolf

Simon J Woolf, der 2018 mit seinem Buch "Amber Revolution" eine leidenschaftliche Reise durch die Welt der Orange Weine antrat, beklagt in seinem jüngsten Artikel im Noble Rot Magazin den Erfolg der sogenannten Naturweine. Wir fragten ihn: Warum?

WINE+PARTNERS: Simon, wie viele Weinproduzent:innen, die schon früh auf Naturweine gesetzt haben, gehst auch Du in Deinem Artikel auf Distanz zur gegenwärtigen Entwicklung. Kann man sagen: "Die Revolution frisst ihre Kinder"?

Simon J Woolf (lacht): "Ich bin immer noch ein großer Befürworter von Weinen, die authentisch und ehrlich gemacht sind. Problematisch finde ich nur, dass viele Konsument:innen ausschließlich nach trüben und hefig-riechenden Weinen Ausschau halten – es besteht ein Missverständnis darüber, was diese Kategorie eigentlich bedeutet.

War dieser Hype nicht zu erwarten? Bist Du vom Erfolg der Kategorie überrascht worden?

"Schon seit längerem habe ich beobachtet, dass die Idee der puristischen, naturnahen Weine eine gewisse Popularisierung erlebte. Die internationale Naturwein-Bewegung ist definitiv zur Mode geworden, wenn diese Weine überhaupt in meiner örtlichen Bäckerei oder Kunstgalerie erhältlich sind. Aber es stört mich, dass 'Natural' mit einem bestimmten Stil in Verbindung gebracht wird.

Ist der Trend mehr eine Geschmacks- oder eine Generationenfrage?

"Junge Menschen wollen nicht das Gleiche trinken, wie ihre Eltern. Die heutige Generation der unter 30-Jährigen fand schwere, holzausgebaute Rotweine langweilig und sie wandte sich zunächst vom Wein ab – bis sie entdeckte: Hey, da gibt es auch noch was anderes! Insofern ist es die natürliche Gegenreaktion einer Generation auf die Gewohnheiten ihrer Vorgänger. Gleichzeitig ist unsere Gesellschaft derzeit aber auch auf der Suche nach Leichtigkeit und nach Frische. Da kommen die natürlich ausgebauten Weine gerade richtig."

"The natural wine scene continues to grow," says Simon J. Woolf.

Man hat den Eindruck, dass die jungen Weinmacher:innen wieder hauptsächlich davon erzählen, was sie im Keller machen, wieviel oder wie wenig Schwefel sie verwenden, wie lange die Weine auf der Maische standen. Sind das nicht Erzählungen, die wir schon längst hinter uns glaubten, weil wir viel mehr über Weinberge und Böden kommunizieren wollten?

"Es ist tatsächlich bedauerlich, dass so viele Produzent:innen von technischen Details erzählen, und damit den Weinen so gar nicht gerecht werden. Aber wahrscheinlich liegt es daran, dass sie gar nicht wissen, welche andere Inhalte spannend wären. Als Journalist kann ich dir sagen: Es ist harte Arbeit, einen Winzer dazu zu bringen, etwas wirklich Interessantes zu erzählen. Die Rezeptur des Weinmachens ist es nämlich nicht."

Du klagst, dass in Amsterdam praktisch nur noch Natural Wines serviert werden. Meinst Du, der Höhepunkt ist erreicht und bald können wir eine neue Weinmode erwarten?

"Die Naturweinbewegung wächst weiterhin, aber wir sehen eine Aufteilung. Einerseits Produzent:innen, Bars und Shops, die einfach Business damit machen. Andererseits solche, denen authentische Weine ohne irgendwelche Zusätze echt am Herzen liegen. Diese Weine werden puristischer, sauberer, sind weniger laut. Es ist eine Weiterentwicklung in eine gute Richtung. Sehr viele wurden wachgerüttelt, niemand auf der ganzen Welt bleibt von dieser Evolution unberührt."

Was rätst Du einem jungen oder weniger erfahrenen Menschen, wonach man suchen sollte, möchte man nicht auf modische Trivialisierung hereinfallen?

"Das ist sehr schwierig, denn Wein ist ein komplexes Thema, ganz egal ob 'natural' oder 'conventional'. Man kann sich nicht einfach an einer leicht erkennbaren Optik – dass ein Wein zum Beispiel trüb ist – festhalten. Es spielen viele Faktoren zusammen. Und vor allem braucht es Übung und das Vergleichen. Ich rate dazu, einen günstigen Wein im Supermarkt zu kaufen, einen kleinen, handwerklich hergestellten Wein daneben zu stellen und ihn bewusst zu probieren. Nicht nur auf vordergründigen Duft – sondern auf Länge, Komplexität, Lebendigkeit. Es ist am Anfang nicht so einfach, die Dinge auseinanderzuhalten und ein Gespür für die Seele eines Weines zu bekommen. Es braucht Zeit und Erfahrung – und mit dem Lernen wird sich der eigene Geschmack verändern."

"After all, you can’t drink ideology, but you can drink cloudy."

Amber Revolution & Foot Trodden by Simon J Woolf
Simon J Woolf has published two books about orange wines and natural wines. / © Photos provided

Zur Person

Simon J Woolf ist mehrfach ausgezeichneter Wein-Autor und Journalist – unter anderem schreibt er regelmäßig für Decanter sowie Meininger Wine Business International – und ist mit seinem fundierten Wissen der wohl wichtigste internationale Experte für Orange Wines und Naturweine. Dieser Thematik widmete er "Amber Revolution" (2018) und legte damit das weltweit erste, umfassende Standardwerk rund um Orange Wines vor. 2021 publizierte Woolf gemeinsam mit Ryan Opaz mit "Foot Trodden" sein zweites Buch. Seit 2011 betreibt Simon J Woolf die Website The Morning Claret, auf der man seinen ursprünglich im Noble Rot Magazine erschienenen Artikel über die Trivialisierung der Naturweine nachlesen kann.